DLS / Helmut M. Selzer
 
 


EU-Politik und die 'Provinz'


Im südlichen Mittelfranken leben wir in der sprichwörtlichen Provinz. Aber auch Münchnern, Passauern, Ingolstädtern oder Nürnbergern geht es nicht prinzipiell anders, wenn wir deren Einfluß auf das Geschehen in Brüssel bedenken.

Das abwertend klingende Urteil 'Provinz' hat heute einen Teil seiner einstigen Berechtigung verloren. Provinz war mal gleichbedeutend mit schlechter Erreichbarkeit, mit informationeller Abgeschnittenheit, mit Bildungs-Rückständigkeit (um einige Kriterien zu nennen). Verkehr, Informations- und Kommunikations-Technologien sind derzeit überregional annähernd vergleichbar (Ausnahme die Breitband-Technologie). Zugang-Möglichkeiten zu Bildung-Instituten sind (regional, zumindest) ausgeglichen. Auch Anspruch-vollere Arbeitsplätze sind in der 'Provinz' vorhanden.
Dennoch müssen sich abseits gelegene Regionen um Aufmerksamkeit balgen, müssen sich nach Anerkennung strecken. Das betrifft Infra-Struktur, Wirtschaft und Politik - insbesondere die EU-Politik, weil die 'Provinz' bisweilen besonders gefährdet ist, andererseits innerhalb der EU auch besonders gefördert wird.

Ein paar Zahlen aus der Statistik :: 505,7 Millionen Einwohner lebten (2013) in der EU; 316,85 Millionen Einwohner zählten (2013) die USA.1  
Im Jahr 2012 vertraten 99 Parlamentarier im EU-Parlament die Interessen von 81,8 Millionen Deutschen.2   Im Vergleich dazu sind 631 Abgeordnete im Deutschen Bundestag (2014).

These A :: Die 'wenigen' Abgeordneten im EU-Parlament brauchen uns Bürger dringend.

1. Viele gute Gründe sprechen für eine Europäische Union,
und dafür, daß Souveränität-Rechte an diese übernationale Institution abgetreten werden.

Eine Verlagerung von Entscheidungs-Rechten auf ein höheres Organ wird von den Abgebenden bisweilen als ein Verlust bewertet. Diese Sicht kann in manchen Segmenten richtig sein. Doch scheint mir eine Harmonisierung von Zuständigkeit dann gerechtfertigt, wenn Ungleichgewichte oder Verzerrungen in einem übernationalen Verbund ausgeglichen werden können.

Wir erleben relativ oft, daß das EP Beschlüsse faßt, von denen viele sagen 'endlich, lange hat es gedauert'. Die gegenteiligen Beispiele (über die wir uns so herrlich aufregen können) sind allzu oft den Einflüssen starker Lobby-Gruppen in Brüssel und in den Hauptstädten aller EU-Staaten geschuldet.

2. TTIP veränderte die Dimensionen.

Von gänzlich anderer Qualität und Größenordnung ist der laufende Prozeß der EU-Handels-Kommission um ein Freihandels-Abkommen (TTIP) mit den USA und assoziierten Ländern. Hierbei geht es nicht um die Harmonisierung unterschiedlicher Standards und Normen zwischen einigen EU-Staaten,
* hier geht es darum, daß die EU eine Vielzahl von Normen und Standards in Absprachen mit den USA akzeptiert und verbindlich festlegt, die bisher noch in nationaler Zuständigkeit lagen, und
* hier geht es darum, daß die EU als global player auftritt und sich im Verein mit den USA einen noch größeren Anteil an Wirtschaft-politischer Macht sichert. Dies zu Lasten von Ländern und Regionen Welt-weit, welche (in spät-kolonialer Manier) Handels-politisch abgehängt oder geknebelt werden können.

Nicht das EU-Parlament hat die Handels-Kommission damit beauftragt (denn das durfte das Parlament gar nicht) sondern die nationalen Minister im EU-Rat haben der Kommission die Berechtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA erteilt (14.06.2013).
Ich unterscheide zwischen der Abtretung von nationalen Souveränität-Rechten an unser Europäisches Parlament, (damit eine 'harmonisierte' Europäische Union entstehen kann) im Gegensatz zur Abtretung von Souveränität-Rechten (und das Aufgeben von Standards) an die USA, um einem internationalen Konzern-Kapitalismus noch weiteren Einfluß zu sichern. Im global agierenden Kapitalismus (der mit dem TTIP-Abkommen weiter gestärkt werden soll) versuchen multinationale Konzerne mittels der EU-Administration ihre Optionen durchzusetzen.

Um nicht mißverstanden zu werden :: Bedenkenswert ist mir, daß manche europäischen Staaten (Deutschland und die EU eingeschlossen) von den USA eine Reihe von Regeln und Standards übernehmen könnten und sollten, weil diese schärfer ausgelegt sind, weil sie vor Mißbrauch besser schützen als adäquate Gesetze oder Verfahrensweisen in machen EU-Ländern. Von einander lernen ist allemal besser als Diktate durchzusetzen.

3. Die Region(en) bewahren.

Vor Jahren gab es einen heftigen Streit darüber, ob das Prinzip der regionalen Teil-Zuständigkeiten in der EU stärker ausgebaut werden sollte. Das hätte Auswirkungen vor allem auf die innen-Verhältnisse der großen (multi-regionalen) Länder (wie Italien, Frankreich, Deutschland, UK) gehabt, deren zentralistische Kräfte dann geschwächt würden.

Entscheidungen darüber stehen der EU noch bevor. Ich plädiere dafür, daß in den Regionen (nicht nur in solchen, in denen 'Stammes-Mentalitäten' historisch stark verwurzelt sind) auch über Fragen ihrer Regionalität Bürger-nah diskutiert werden solle. Argumente vortragen und Aktionen veranstalten, daß regionale Befindlichkeiten in der (sehr großen) EU ein Gewicht behalten sollen, auch darin sehe ich legitime Aufgaben für die EU-politischen Initiativen. Bürger-Diskurse über Fragen der Regionalität betrachte ich als unverzichtbar für den Weiterbau einer vitalen politischen groß-Gemeinschaft. Ausgeprägte Regionalität zu bewahren hat dann Chancen, wenn aktive Bürger ihre Region innovativ weiter-denken, damit sie diese ihrer Enkel-Generation lebenswert weitergeben können.

4. Wir EU-Bürger sind für das Gelingen einer Europäischen Union ähnlich Einfluß-wichtig wie EP-Abgeordnete.

Dies ist mit ein Grund für die EU-politische Initiative Pappenheim. Das aktuelle Geschehen um die geheim-Verhandlungen zum TTIP macht es deutlich, warum sich Bürgerinnen und Bürger in die Politik der Europäischen Union einmischen müssen.

Jedem politisch umsichtigen Bürger eröffnen sich Tag für Tag Szenarien unterschiedlicher Tragweite, welche uns Folge-Betroffene eindringlich gemahnen, auf das Handeln und Entscheiden der parlamentarisch Legitimierten besonders zu achten. Das betrifft auch das Handeln der EU-Parlament-Abgeordneten (denen wir nach derzeitiger Rechtslage ein Mandat erteilen können).
Den Kommissaren können (wir Wahl-berechtigten) Bürger (nach derzeitigem EU-Recht) kein Mandat erteilen; diese agieren im (demokratisch nicht legitimierten) Mandat-losen Raum. Gerade deshalb werden wir uns mit deren Tun besonders zu befassen haben.
Und dann auch mit dem 'stillen Einfluß' von Zehn-Tausenden registrierter oder auch nicht erfaßter Lobbyisten in allen politischen Zentren der EU.

These B :: Wir brauchen die EU-Abgeordneten ebenso, wie sie uns brauchen; wir ersuchen sie, die Anliegen unserer EU-politischen Initiativen im Parlament zu vertreten.

5. Zur globalen Wirkung der EU.

Das geplante TTIP-Abkommen beträfe nicht allein die halbe Milliarde EU-Bürger; das TTIP soll globale Wirksamkeit entfalten.
Zu selten wird darüber nachgedacht, daß eine einseitig auf EU-Gewinne ausgerichtete Politik auf den anderen Seiten Ausschlüsse, Benachteiligung, Markt-Verdrängungen verursacht. Eine denkwürdige Bananen-Verordnung (2257/94/EG) 3 möge uns daran erinnern, daß Handels-egoistische Restriktionen bisweilen vermittels der Durchsetzung von (formal harmlos erscheinender) Produkt-Charakteristik (die zu verdrängenden) Konkurrenten von Märkten ausschließen können.

Trotz meiner kritischen Anmerkungen gilt für mich :: Das Projekt 'Europäische Union' ist zwar noch an keinem Endziel angekommen. Aber vieles was wir in den über sechs Jahrzehnten der Entwicklung erlebten, waren Schritte in einer (zwar nicht immer richtigen aber letztlich doch konsequenten) Folge von bedeutsamen Schritten. Daß die weitere EU-Politik keine (Fehl-)Schritte tut, denen die Mehrheit der Bürger ihre Zustimmung verweigerte, zu diesem Ziel und Zweck engagieren sich Bürger.


Intention und Aufgabe für das Europäische Haus in Pappenheim beschrieb ich seit 2009 gerade auch unter dem Aspekt einer engagierten 'Bürger-Beteiligung'. Wache Bürger beobachten nicht nur das (ihnen nahe liegende) Kommunal-politische Geschehen recht genau, sie mischen sich auch ein, wenn Grundsätze der über-regionalen und der globalen EU-Politik verhandelt werden. In der BRD-Demokratie werden auch künftig engagierte Bürger mit-denken und mit-argumentieren bezogen auf Richtung und Qualität der anstehenden Organ-politischen Transformationen der Europäischen Union.


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Quellen ::

1   >> http://de.statista.com/statistik/daten/studie/14035/umfrage/europaeische-union-bevoelkerung-einwohner/
2   >> http://www.europarl.europa.eu/aboutparliament/de/0005bfbc6b/Zahl-der-Abgeordneten.html
3   >> http://de.wikipedia.org/wiki/Nichttarif%C3%A4res_Handelshemmnis
/und/ >> http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Bananenverordnung
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Ab 2014 erscheinen zum Thema weitere Beiträge ::

>> EU-politische Initiativen.

>> Für eine verantwortbare Handels-politische Zukunft der EU.

>> TTIP kritisch beobachten, kommentieren, widersprechen.


H.M. Selzer (2014)