Didaktik-Labor, Helmut M. Selzer
 
 

Das Lernen lernen, Teil 11

Resümee :: Gedanken zum Lernmanagement



Wer nicht lernt seine Persönlichkeit zu entwickeln, lebt (von sich) abgeschlossen.
Wer seine soziale Integration nicht lernt, der ist (aus dieser Gesellschaft) ausgeschlossen.
Wer das Lernen nicht gelernt hat, dem bleibt die Welt verschlossen.




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Das Leben in dieser Welt ist für einen jungen Menschen abenteuerlich. Und die meisten Kinder würden sich ganz in die Lern-Abenteuer stürzen, wenn nicht wir Erwachsenen die Welt zupflasterten mit Geboten, mit Verboten, mit Warnungen, mit Vorschriften. Was uns Erwachsene dazu treibt, ist die stete Angst, das Kind könne in dieser gefährlichen Welt Schaden nehmen. Es könne sich am Körper oder an der Psyche verletzen, seine Moral könne beschädigt werden. Dabei gäbe es für Kinder so vieles in eigener Zuständigkeit zu lernen, gerade auch das Überleben in einer 'gefährlichen' Welt.

Und dennoch: Was Lernen bedeutet, erfahren die Jungen, wenn schon nicht umfassend in Schulen, dann um so bestimmter von der 'Umwelt', in der sie sich täglich über viele Stunden aufhalten. Das Lernen von Vielerlei außerhalb von Schule ist anregend, vermittelt die Erfahrung der Selbständigkeit, geschieht zumeist mit allen Sinnen, ist oft kein Muß, ist meist ein Will. Erfolgreich empfundenes Lernen gibt den Anstoß zum weiteren Lernen.

Dabei sind verschiedene Prozesse so verknüpft miteinander, daß dem Lerner gar nicht bewußt wird, geht es ihm vorrangig darum eine Aufgabe zu erledigen, oder geht es ihm darum, herauszufinden wie sich das Problem lösen läßt.

Solche Ambivalenz erleben Menschen bis ans Ende des Lebens: Wer sein alltägliches Lernen bewußt wahrnimmt, kann sich entweder über die erledigte Aufgabe freuen, oder er kann wegen einer optimierten Lernstrategie mit sich zufrieden sein etwa darüber, einen kürzeren Weg entdeckt zu haben, eine elegantere Lösung gefunden zu haben, eine überraschende Beobachtung gemacht zu haben.


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Erziehende sind heute wohl öfter als in früheren Zeiten geblendet von Versprechungen einer 'optimalen Schulbildung' für ihre Kinder. Diese wird in der öffentlichen Wahrnehmung gleichgesetzt mit dem gymnasialen Abitur. In vielen Fällen steht die Angst der Erziehenden dahinter, ihr Kind könne einen sozialen, sprich einen Bildungsabstieg erleiden, wenn es ohne das Initiationsritual des gymnasialen Abiturs aus der Schule entlassen würde. Dabei achten manche Erziehende nicht darauf, was ihr Kind wirklich kann, welche Neigungen es erkennen läßt, welche seiner Anlagen auf Förderung warten. Die Drohung 'Wenn du das Abitur nicht schaffst, bist du ein Versager!' schwebt über vielen Kindern.

Dabei ist gerade der gymnasiale Schulweg oft ein Fehlweg. Immer wieder habe ich beobachtet, daß junge Leute erst nach ihrer dualen Berufsausbildung reif geworden waren für ein selbstverantwortetes Lernen in Schulen. Und danach eröffnet das berufsbildende Schulwesen mehrere Wege zum Abitur, somit zur Berechtigung an einer Hochschule studieren zu können.

Ein Lernvertrag ist vielen Erziehenden und den meisten Lehrern immer noch ein abwegiger Gedanke. Ein Kind hat kein Vertragsrecht; Erwachsene reklamieren ihr Bestimmungsrecht über kindliche Lernwege.


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Erziehende und Lehrer sind vom Zwang besetzt, anderen etwas 'beibringen' zu sollen. Dieser Zwang kann kontraproduktiv wirken. Wir bräuchten die Jungen um so weniger zu belehren, je ungezwungener, selbstverständlicher, lebensalltäglicher wir den autonomen Umgang mit unserem Wissen, mit unseren Kompetenzen lebten.

Wir brauchten gar nicht so bemüht sein um demonstrative Haltung, um belehrenden Gestus, um 'Vorbild'. Lerner durchschauen hohle Vorbilder, gekünstelte Attitüde, krampfhaftes Getue, und wenden sich von solchen Erwachsenen ab. In unseren Schulen laufen viele verkrampfte Pädagogen herum, und Erziehende brauchen oft lange, bis sie die Künstlichkeit ihrer erziehenden Haltung überwunden haben. Die Losung könnte lauten: Nichts demonstrativ 'vorleben' wollen, sondern absichtslos mit den Jungen zusammenleben, dabei aber viel aufmerksamer auf die eigene Entwicklung zu achten als die Lernfortschritte der Jungen zu beargwöhnen.

Wir sollten allerdings bedenken, wann und wobei uns die Jungen besonders beobachten: Wie wir aus der Fülle der Informationen auswählen, wofür wir Interesse bekunden, wo wir nachfragen, mit wem wir ein Gespräch anstreben, aus welchen Quellen wir unser Wissen und Erkennen schöpfen, wen wir um eine Lern-Führung ersuchen, wem wir in Sachen Lernen vertrauen.

Und sie registrieren, wie achtsam wir mit dem Gut Wissen und Erkennen umgehen, wie wir auf die Qualität von Zu-Lernendem achten, was wir mit Gelerntem anfangen, wie wir neu Gelerntes einüben, anwenden, gebrauchen, wie wir unser Wissen, unsere Kompetenzen weitervermitteln.

Und beobachtet wird auch, aus welchen Gründen wir einen Lernprozeß unterbrechen oder beenden, wie autonom wir schließlich darüber entscheiden: Das will ich lernen, dieses nicht!


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Das Lernen-Können gehört zur Ausstattung von Menschen. Die Fähigkeit zu lernen ist bei Säugetieren im langen Prozeß der Evolution hervorgetreten. Ein angeborenes Verhalten leitet die Säuger an, Lebenserhaltendes und Arterhaltendes schon bald nach der Geburt zu erlernen.

Menschen haben diesbezüglich kein eindeutiges angeborenes Verhalten. Wir brauchen externe Instanzen, die uns raten, was wir tunlichst lernen, und was wir zu lernen unterlassen sollten.

Der Vorgang des Lernens allein trägt kein Gütesiegel. Wir können Lebensnotwendiges lernen, wir können Lebenstaugliches lernen, wir können Belangloses, Nutzloses, Minderwertiges lernen, aber wir können auch Gefährliches, Schädliches lernen, oder Schlechtes, oder Verwerfliches lernen.

Zum Anfang eines Lebens bilden die Erziehenden diese Instanz. Aber unsere Kultur sieht vor, daß sich ein jeder - früher oder später - von den externen Instanzen emanzipieren soll: Das ist eines der Kulturkonzepte im aufgeklärten Europa.

So wird es für jeden nötig, auch die Kriterien zu erlernen, nach denen einer sein Lernen justiert. Drei Kriterienarten meine ich:
- Was ist lebenstauglich, lebensbedeutsam, lebensnotwendig?
- Wie lerne ich das, was ich brauche am angenehmsten, am schnellsten, mit einem möglichst geringen Aufwand an Mühe und Kosten?
- Wie lerne ich qualitätsvolles Lernen?

Die Kriterien des Lernens werden im Verlaufe der Kindheit und Jugend entwickelt, sie sind ein Leben lang zu modifizieren, zu korrigieren, neu auszurichten.


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Über das Lernen in Schule ist vieles gesagt, aber Grundsätzliches muß so oft und immer wieder betont werden, so lange schlechte Bedingungen nicht geändert wurden.

Nicht daß sich Lehrer nicht bemühten, guten Unterricht zu machen. Aber sie sind von ihren Arbeitgebern auf Ziele verpflichtet, die von vielen Lernern als unbrauchbar, als verfehlt, als ermüdend, als dämlich angesehen werden. Selbst wenn man unterstellt, daß die Lerner das Bemühen der Lehrer falsch deuten könnten, es nicht richtig interpretierten, es also nicht verstehen, bleibt der Vorwurf gewichtig.

Denn, wenn das Lernen in Schulen solche negativen Empfindungen hervorruft, dann haben es Lehrer wohl nicht verstanden, die Angemessenheit ihrer Forderungen nachvollziehbar zu begründen, haben es nicht erreicht, die Bedeutsamkeit des zu vermittelnden 'Stoffes' den Lernern sinnenhaft verständlich zu machen oder sie haben nicht die Lernmethoden gewählt, die für ein gutes Lernen angemessen gewesen wären. Zumeist haben sie nicht erreicht, mit dem Lerner stabile Lernstrategien zu trainieren und erfolgreich einzuüben.

Eine häufig vorgebrachte Lehrer-Entgegnung, dies schreibe das Ministerium, das schreibe 'der Lehrplan' vor, jenes sei nicht vorgesehen, versucht vergeblich die Verantwortung auf den Arbeitgeber abzuschieben. Denn auch schlechte Strukturvorgaben entlasten weder Lehrer noch sonstwen von der elementaren Pflicht, erfolgreiches Lernen zu fördern.

Erfolgreiches Lernen sehe ich dann verwirklicht, wenn ein Lerner die von ihm in konkreten Lebenssituationen benötigten Wissens- und Erkenntnispotentiale bedarfsgerecht und aufwandsökonomisch anlegen, erweitern oder verändern kann.
Erfolgreiches Erlernen von Fertigkeiten erledigt einer sinnvoller Weise in zielbegrenzten Lehrgängen.



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Das viel beklagte Versagen von Schule gründet auch auf Versagen von uns Lehrerausbildern:
- Wir haben blind auf Schule gesetzt, auf staatliche Schulen, auf die je Bundesland unterschiedlichen Schulensysteme, die jeweils einer anderen politischen Konformität verpflichtet sind. Das Thema 'Alternativen zur dreigegliederten allgemeinbildenden Schule' kommt recht selten auf die Tagesordnung in Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Praktika.
- Das Thema 'Lernen' wird eher unter dem Aspekt betrachtet, wie ist abfragbares Wissen im Schüler anhäufbar, denn als lebenssichernde Elementarkompetenz. Das Lernen zu erlernen sollte als Menschenrecht anerkannt sein.
- Was gutes Lernen auszeichnet: Es beruht vor allem auf der Kooperation von Händen, Augen, Sprache und Gehirn.
Zu kurz kommen nützliche Formen des Lernens wie das mit-Händen-Begreifen, mit-dem-Körper-Lernen, Funktion-Beurteilen, Nützlichkeit-Bewerten, Hilfsmittel-Entwickeln, Werkzeuge-Handhaben, Gefahren-Erkennen, Strategien-Erproben, mit-Befinden-Experimentieren, aus-Fehlern-Lernen, Vertrauen-Herstellen, Zusammenhänge-Verstehen, Wissen-Weitergeben, autonom-seinen-Erkenntniszuwachs-Steuern und viele andere Verfahren.
- Es ist Aufgabe der Lehrerausbilder, nicht nur ihr eigenes Fach strukturell weiter zu entwickeln, sondern fachliche Inhalte als persönlichkeitsbildende Module zu begreifen, sie quasi neu zu erfinden in der Intention, das Lernen-Wollen der (zumeist nicht freiwillig sich entschieden habenden) Lerner anzuregen.

Nach meiner Überzeugung sind Hochschullehrer, welche die Lehrerausbildung durch ihr Denken und ihr Handeln ja erheblich mitbestimmen ständig aufgefordert, sich zu Grundsatzfragen des Lernens (selbst-)kritisch zu äußern. Der Vorwurf der (publizierten) Öffentlichkeit wird früher oder später die universitäre Lehrerausbildung einholen: Warum haben die ihre privilegierte Position nicht genutzt, um eindringlich vernehmbar an die zentrale Aufgabe zu gemahnen: Geeignete Lehrer ausbilden, welche die ihnen anvertrauten Lerner zum erfolgreichen Lernen führen können und wollen.

Das Argument, solches sei derzeit in Schule politisch nicht durchsetzbar, ist wohl richtig, aber dieses Argument besagt doch auch: Der Status-quo ist uns heilig; tastet ihn bitte nicht an! Nur keine Konflikte mit Schulbürokratie oder Politik anzetteln!

Erfolgreiches Lernen als Option für alle Lerner anzubieten, und ihnen solches auch ermöglichen, das sollte man sich tunlichst nicht erwarten von Schulbürokraten und von der Mehrheit der Politiker. Die meisten von ihnen verstehen von gutem Lernmanagement eben nicht genug.


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Zum Ende des Jahres 2006 möchte ich mich bedanken:
- Ich danke den Kindern, die mir zeigten, wie sie lernen (möchten).
- Ich danke den Autoren und Journalisten, die über 'Lernen' schreiben und berichten, und ich danke den Gesprächspartnern, die bereit waren mit mir über 'Lernen' zu diskutieren.
- Ich danke all denen, die mir im abgelaufenen Jahr geholfen haben, etwas Wichtiges zu lernen, etwas über die Welt, etwas über ein Phänomen oder über einen Sachverhalt, etwas über mich selbst.


© Helmut M. Selzer     30.12.2006
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Referenz: Auch wenn im Text personenbezogene Substantive zumeist maskulin gebraucht werden, stets sind Frauen wie Männer, Mädchen wie Jungen gleichermaßen benannt.

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