DLS / Helmut M. Selzer
 
 


Diskurse zur Zukunft der EU


Ein aktueller Beitrag zum 2016-10-27

Das CETA-Debakel wird das EU-Management zu Reformen zwingen.
Teil 1


Konsequent, unbeugsam, aufklärend, und von vielen Menschen getragen ist das bürgerschaftliche Engagement gegen CETA ein Demokratie-Signal.

Wenig kompetent reagierten Regierungen in diversen EU-Staaten (einschließlich in D), und unwillig war das EU-Management, die Menschen von Beginn der Verhandlungen an (2009) über die Ziele, die erwarteten Vorteile, die möglichen Schwächen der zu erarbeitenden Verträge aufzuklären. Zumindest ab der Phase, als Neuregelungen verhandelt wurden, die gegen demokratisch erstrittene Standards in D ausgerichtet waren, welche diese zu unterlaufen oder sie auszuhebeln im Stande sein sollten, spätestens ab dieser Zeit hätte intensive Regierung-amtliche Aufklärung erfolgen müssen.

Abgehoben und uneinsichtig agierte die EU-Kommission. Außer Beschwichtigung-Floskeln gab es kaum Information. Es wurde nicht für einen Dialog geworben, den Kritikern wurde immer nur mit volkswirtschaftlichen Verlusten gedroht.

Die zuständigen EU-Handels-Kommissare, allen voran Herr de Gucht, waren von der Angemessenheit ihrer demonstrierten Sturheit offensichtlich überzeugt. Was will denn das Volk über internationale Handels-Politik mitreden? Es liegt doch allein in der Aufgabe der Verhandlung-Gremien und Delegationen über Gut oder Schlecht, über Nützlich oder Schädlich zu befinden. Und über unsere Praxis des globalen Neo-Liberalismus gestehen wir den Massen keinesfalls ein Urteil zu. So kam das Verhalten des Herrn de Gucht bei mir EU-Bürger an.

Viele der gewählten Abgeordneten in den Parlamenten zeigten sich an den CETA-Vertrag-Verhandlungen (über eine lange Zeit) offenbar wenig interessiert. Zu oft hörten Bürger von ihren Abgeordneten: Wir Volks-Vertreter haben keinen Einblick in die Dokumente. Und dies bis ins Jahr 2016 hinein.

Erst durch die Massivität der Bürger-Proteste sahen sich die EU-Verantwortlichen zu Gesprächen genötigt und schließlich zum Öffnen der verschlossenen Dokumente-Tresore veranlaßt.

Wenn den Gegnern des CETA-Abkommens (in seiner derzeit bekannten Fassung) vorgeworfen wird, sie wären nicht Kompromiß-bereit, ist dieser Vorwurf nicht begründbar. Es steht den kritischen Bürgern durchaus zu, nicht durch voreilige Kompromiß-Signale ihren Protest substanziell zu schwächen; denn die Bürger haben nichts in Händen außer eben ihren Protest. Während der Gegenseite (Europäischer Rat, Minister-Rat, Europäische Kommission, nationale Regierungen und deren Fach-Minister, Staats-Chefs, Abgeordnete auf mehreren parlamentarischen Ebenen) ungezählte Mittel zur Verfügung stehen. Die politischen Gewichte sind in dieser Kontroverse ungleich verteilt. Den Protest der Bürger vorzeitig durch eigene Kompromiß-Vorschläge zu schwächen, das wäre nicht verantwortbar.

Und vor allem ist es diese Frage: Worüber und wie sollten die Protestierenden einem Kompromiß zustimmen? Manches Gerede deutscher Minister und Kanzlerin war unpräzise, desorientierend, fehlerhaft, es war eher beschwörend als informierend.

Und ferner diese unsäglich törichte Geheimnis-Politik. Was hätten wir Bürger bis 2013 substantiell sagen können (während die seit 2009 laufenden Verhandlungen mit Kanada in steriles Schweigen gehüllt waren), was in 2014 sagen (als die ersten Leaks in die Öffentlichkeit gelangten), oder 2015 (als über nicht offizielle Kanäle mehr und mehr Einzelheiten bekannt wurden, gegen die von der anti-CETA-Bewegung substantielle Argumente vorgebracht wurden), und 2016 (als zwar die Dokumente endlich öffentlich gemacht waren, aber von Politiker-Seite penetrant behauptet wurde, alles sei bereits ausgehandelt, der Vertrag sei reif zur Unterzeichnung, Änderungen seien nicht mehr durchzusetzen).

Einen anderen Vorwurf haben Medien in den Raum gestellt, die CETA-Gegner hätten die zuletzt erreichten Zugeständnisse der Regierenden nicht entsprechend gewürdigt. Dazu: Was nicht verändert worden ist und was nicht öffentlich publiziert ist, das kann nur kritisiert und keinesfalls gewürdigt werden. Es gab 2016 eine Reihe halb-offiziöser Mitteilungen; aber wer mag solchen neben all den unpräzisen wolkigen oder Fehler-behafteten Propaganda-Behauptungen der CETA-Befürworter noch glauben?

Im Verlauf dieser langen Kontroverse entschwindet allzu leicht aus dem Bewußtsein, was die Protest-Bewegung bisher bewirkt hat, und für welche zentralen Positionen wir Bürger stehen. Als imponierende WIR-Leistung können die kritischen Bürger ihr bisheriges Zwischen-Ziel präsentieren:

Ohne die große Zahl derer, die auf den Straßen demonstrierten, ohne die Aufklärung-Hilfen durch 'illegal' veröffentlichte Papiere, ohne die Logistik-Leistung der Hunderte von Organisationen (und deren Informationen, Aufrufen, Veranstaltungen), ohne die Argumentation der vielen Bürger (bei Info-Ständen, an Stammtischen, in sozialen Netzwerken, in Internet-Publikationen, in Buch-Veröffentlichungen etc.), ohne dieses großartige zusammen-Spiel von engagierten Demokraten wären am 2016-10-27 in Brüssel viele der nachhaltig schädlichen Vertrags-Artikel unterzeichnet worden.

Im Sinne und zum Nutzen global agierender Konzerne mögen die Unterhändler der EU Erfolg-reich verhandelt haben. Im Sinne und zum Nutzen vieler Bürger haben sie (nach heutigem Kenntnis-Stand) in zentralen Feldern schlecht verhandelt.


Regionale Regierungen

Der Widerstand in Staaten und von regionalen Regierungen ist ebenfalls ein Zeichen dafür, daß die intransparente Verhandlung-Führung inakzeptabel war, und daß wesentliche Verhandlung-Ergebnisse als unzureichend angesehen werden. Im Verlauf des CETA-Verfahrens wurden entscheidende Mängel in der Konstruktion der EU und in ihren Prozeß-Verläufen offen gelegt.

Es ist peinlich, wenn einer, oder wenn eine ganze Klasse nachsitzen muß. Diese Peinlichkeit hat sich die Klasse der EU-Regenten wohl verdient. Nachsitzen müssen die zuständigen Damen und Herren auch deswegen, weil sie beizeiten (und über Jahre hinweg) die Bürger nicht substantiell informieren wollten, weil sie Verhandlung-Stände verheimlichten, Verhandlung-Stände, von denen sie wissen mußten, daß ihnen diese später um die Ohren fliegen werden.

Wenn sie nun nach dem vertagten Unterzeichnung-Termin nachsitzen müssen, dann mag dies als peinlich empfunden werden, aber es ist längst noch keine Katastrophe. Viel schlimmer wäre, wenn wegen einiger herrschaftlicher Allüren die Akzeptanz der EU bei ihren Bürgern noch weiter abschmelzen würde.


Ceterum censeo

o   Wir Bürger haben mit unseren Kampagnen einiges bewirkt. Wir konnten (nach heutigem Kenntnis-Stand) manche der schlimmen Vereinbarungen (vor Ratifizierung des Vertrages) rückgängig machen oder zumindest entschärfen.

o   Wir haben den EU-Verantwortlichen deutlich gemacht, daß ihr uneinsichtiges Verhandlung-Management für das Ansehen der EU bei den Bürgern überaus schädlich gewirkt hat. (Allen Rechts-Populisten im Lande kamen, als Trittbrett-Fahrern, die demokratischen Bürger-Proteste sehr zu Pass.)

o   Wenige Regierungen (in Belgien) haben in 'letzter Minute' bei nach-Verhandlungen offenbar Besserungen in den Vertrag-Texten erzwungen.

o   Das deutsche Bundes-Verfassung-Gericht hat die (von ausnehmend vielen Menschen unterstützten) Verfassung-Klagen angenommen. Es wird diese Klagen in der Haupt-Verhandlung prüfen und würdigen. Bereits in der mündlichen Verhandlung hat das BVG bedenkenswerte Auflagen gemacht. Auch diese Klage-Schiene ist den sich wehrenden Bürgern zu danken.

o   Ich gehe davon aus, daß über kurz oder lang ein Handels-Vertrag zwischen der EU und Kanada abgeschlossen wird. Allerdings ohne die gefährlichen Schieds-Gerichte und ohne andere Unannehmbarkeiten. Aber die Optionen eines deutschen Nein zu CETA muß gewahrt werden.

o   Für die weitere Bewertung der (modifizierten) Vertrags-Texte wird erhebliche Zeit benötigt. Viele um Demokratie und Recht-Staatlichkeit bemühte Persönlichkeiten werden nun prüfen, in wie weit mit dieser neuen Generation von 'Handels'-Verträgen bisherige Demokratie-Konsense in Frage gestellt, vielleicht sogar gekündigt worden sind.


Zurück zur Überschrift

Die durch das selbst verschuldete CETA-Debakel geschwächten EU-Verantwortlichen und die Regierungen der Staaten mögen die CETA-Krise dazu nutzen, einen Prozeß der Demokratisierung in den EU-Organen ernsthaft zu betreiben.

Die Lehren aus dem intransparenten und unzureichend angelegten und geführten Prozeß der Erarbeitung des CETA-Abkommens sollten ein Anstoß sein, daß die Regierungen der beteiligten Staaten notwendige Korrekturen an den EU-Strukturen vornehmen.

Ziel von Reformen sollte sein, für die Idee der Europäischen Union eine nachhaltige Akzeptanz möglichst vieler Bürger der EU-Staaten und -Länder (wieder) zu gewinnen.



Der (bisher veröffentlichte) regionale Diskus um TTIP und CETA in der EU-politischen Initiative Pappenheim ist dokumentiert in
>> TTIP kritisch beobachten, kommentieren, widersprechen




(c)   Helmut M. Selzer (2016-10-27)