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Liebe Mitbürger/innen in einer Zeit der Neuorientierung,
Sehr geehrte Mandatsträger, gerade auch Sie in einer Zeit der Neuorientierung,
ich begreife die jetzige außenpolitische Neuorientierung als eine Wendemarke und erkenne darin eine Emanzipation deutscher Außenpolitik. Zugleich markiert die gegenwärtige Spiegelung der Weltpolitik in Deutschland eine Zäsur im Denken von vielen Deutschen.
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Zäsur im Denken
Der Scherbenhaufen, den die Bush-Administration - unabhängig vom Ausgang des Konfliktes - hinterlassen wird, dieser Scherbenhaufen kann für Europa ein Mahnzeichen zur Einigkeit in der Außenpolitik werden.
Wir sprechen dann von einem Scherbenhaufen, wenn nach einem krisenhaft empfundenen Ereignis alte - bisher gewohnte und vertraute - Strukturen beschädigt oder zerbrochen sind.
Es mag geschehen, daß ein wertvolles Gut beschädigt wurde, es mag sein, daß Gefüge, die sich überlebt haben, auseinanderfallen, es mag sein, daß eine lange Zeit geglaubte 'Gewißheit' sich als Täuschung erweist und unter Schmerzen aufgegeben wird.
Es kann sein, daß mutwillig eine brauchbare Struktur zerschlagen wurde. Aber was heißt mutwillig? Ist darunter nicht eine Regung zu vermuten, die etwas aufbrechen ließ, was in einer Schale bisher fest umschlossen war, nun aber reif zum Aufbruch geworden ist. Individuen verändern sich im Laufe ihrer Existenz, ähnlich auch demokratische Gesellschaften und infolge die Regierungen: Sie verändern ihr Erscheinungsbild, die Wahrnehmungen der Bürger, verändern anerkannte Wertemuster, somit auch kollektive Ziele.
Ein Riß. So betrachtet, ist der Riß, der sich zwischen den USA und einigen europäischen Staaten und Gesellschaften auftut ein überfälliges Klarwerden über die jeweils andere Seite. Verwurzelte nationale Wertvorstellungen erweisen sich hüben wie drüben in Konflikten stabiler, als es in konfliktlosen Zeiten den Anschein hatte. Zivilisationsprodukte sind exportierbar und rasch konsumierbar, aber kollektive Erinnerungen werden Teil des kulturellen Erbes und werden somit sehr beständig; sie sind anderen schwer vermittelbar. Die Unterschiede zwischen den USA und den meisten Ländern Europas sind sehr groß: eine 'westliche Kultur' gibt es nicht, allenfalls Kulturen, die sich ähneln.
Der Werte-Dissens zwischen den USA und vielen Ländern in Europa und der Welt ist nicht erst seit dem Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten sichtbar geworden. Seit der Präsidentschaft Reagans werden die Unterschiede in der Gewichtung und Bewertung globaler Prozesse immer deutlicher.
Hypothese: Die Krise zwischen den USA und den heutigen Wortführern gegen den Irak-Krieg ist zwar mit der Wahl von G.W.Bush jr. und mit seiner demonstrativ-aggressiven Außenpolitik eskaliert, aber die Krise ist nicht neu entstanden. Die Krise hat Bush jr. von seinen drei Vorgängern geerbt und er hat sie nun zum Platzen gebracht.
Auf der anderen Seite des Atlantik hat Europa in den vergangenen drei Jahrzehnten einen schwierigen aber für US-Vorstellungen unglaublichen Prozeß zu Wege gebracht: die Aufgabe von nationalen Souveränitäten zu Gunsten einer neuen Großstruktur EU. Der Prozeß ist noch längst nicht übern Berg, aber er ist von einer atemberaubenden Dynamik. Und hier gibt es schon Sinn, wenn Mr. Rumsfeld von 'Altem' und von 'Neuem' spricht, wenn er auch anderes meinte. In Europa ist eine 'neue' Dynamik und Aufbruchstimmung bei der Neuordnung von nationalen Strukturen virulent; da bleiben die USA mit ihrem 'alten' Hegemonialdenken weit zurück. Das muß jeder US-Politiker so empfinden; den einen macht es Angst, andere sehen darin einen wichtigen Beitrag Europas zur Stabilisierung.
Es bleibt bei diesem Gedankenexkurs vieles unberücksichtigt, so die Ökonomie, die Verteilung der Ressourcen, die Dissonanz von Arm und Reich (auf mehreren Ebenen), die weltweite Dissonanz von Bildung, von Wissen, von F&E. Aber darauf kam es mir hier weniger an: Absicht war, den Riß zwischen den USA und einigen Ländern der EU - allen voran Frankreich, das hier schon Meilen weiter ist als andere, und nun auch Deutschland - als ein verschlepptes und bisher nicht eingestandenes Problem zu deuten.
Und daß die Zerrüttung der Beziehung zwischen USA und einigen europäischen Ländern gerade jetzt offenbar wird, nun ja, da spielt eben der Faktor Persönlichkeit - sprich G.W.Bush jr. - herein. Der 'Scherbenhaufen' hätte auch schon früher entstehen können (wenn auch kaum unter einem Kanzler Kohl), oder er hätte unter einem Präsidenten Gore noch eine Weile auf sich warten lassen.
Resümee: Dieser Beziehungskonflikt zu den USA war unausweichlich geworden in der neuen Weltkonstellation nach der Selbstaufgabe des Staatskommunismus der USSR Ende des 20. Jahrhunderts.
Daß deutsche Außenpolitik an der Beziehungsklärung impulsgebend beteiligt war und gestaltend beteiligt ist, davon bin ich als deutscher Bürger angetan.
Auch wenn einige Politiker aus der Opposition heraus sich eine laute deutsche Pro-Kriegs-Kampagne zugunsten der potentiellen Aggressoren USA und UK gewünscht hätten, es war diesmal die aktive - nicht nur eine schweigende - Mehrheit der deutschen Bürger/innen gegen die Kriegspolitik der USA angetreten und hat ihre Meinung zur völkerrechtswidrigen Aggressionsabsicht unmißverständlich ausgedrückt.
Der deutsche Kanzler und der deutsche Außenminister haben bisher etwas Wichtiges geleistet, sie haben in der Beziehung Paris - Berlin einen neuen und epochalen Impuls gesetzt. Nun müssen sie den überfälligen Prozeß der Politik-Klärung in der EU kräftig anstoßen und betreiben. Gerade in der jetzigen Krise sollte das geschehen.
Wir Bürger haben unseren Anteil an der Entwicklung. Wir sollten uns dessen bewußt bleiben, auch in den nun folgenden Turbulenzen außenpolitischer, Europa-politischer und innenpolitischer Art. Nicht nur unsere Politiker haben die 'Neuorientierung im Denken' zu verkraften. Jeder von uns hat daran noch viel zu arbeiten.
Gute Grüße
Helmut M. Selzer 15.03.03
Die URL dieser 'Anmerkungen zur politischen Lage' lautet:
http://www.didaktik-labor.de/ApL-Seiten/923_ApL_ZD.html
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Zum Widerstand gegen die derzeitige Politik gibt es aus den USA einige Belege. Ein publizierter Fall ist der
offene Brief des US-Diplomaten John Brady Kiesling (politischer Berater der US-Botschaft in Athen) vom 28.2.03; hier im englischen Wortlaut und in (gekürzter) deutscher Übersetzung.
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