Helmut M. Selzer
 
 
 
Liebe Mitbürger/innen in einer Zeit der Neuorientierung,

Sehr geehrte Mandatsträger, gerade auch Sie in einer Zeit der Neuorientierung,

in diesen Tagen, da die Bush-Trommeln etwas weniger dumpf über den Atlantik dröhnen, nutze ich die Zeit für eine Art von Zwischenbilanz, um meine Erwartungen an neue deutsche Außenpolitik gegenüber den USA zu beschreiben.

Neue deutsche versus Alte USA-Außenpolitik


Partner und künftige Partner besser kennen lernen

Positive Aspekte der Krise zwischen EU-Staaten untereinander sowie zwischen Deutschland und den USA erkenne ich darin, daß die derzeitige weltpolitische Situation zu einer deutlicheren Klärung von Positionen beiträgt, daß eine vordem eher vage Gemengelage an Stimmungen in unserem Land zu mehr Eindeutigkeit gebracht wurde: Nun wissen wir, wer in Europa, wer in Deutschland den USA-UK-Krieg unterstützt, und wer sich primär für kriegsvermeidende Lösungen einsetzt.

Dieses Wissen ist über den aktuellen Anlaß hinaus wichtig, weil wir nun noch deutlicher als vorher sehen können, welche Motive EU-Regierungen und Beitrittsländer haben. Die EU als Wohlstands-Staaten-Verbund funktioniert nicht einfach als Konsumverein. Was schon lange überfällig war, eine EU-Verfassung zu diskutieren und zu verabschieden, wird durch die derzeitige ideologische Spaltung nicht eben leicht werden. Ich glaube jedoch, daß die meisten Menschen in den EU-Ländern Klarheit wünschen: Klarheit bezüglich der EU-Institutionen und ihrer verantwortlichen Repräsentanten, bezüglich erweiterter Entscheidungsbefugnisse der gewählten EU-Parlamentarier, Klarheit vor allem bezüglich der zentralen innenpolitischen EU-Normen und der außenpolitischen EU-Regularien.

Der Dissens innerhalb Europas ist derzeit groß. So dramatisch die Situation weltpolitisch auch ist, dennoch befindet sich Europa 'nur' im Vorfeld, nicht im Zentrum; Europa ist quasi sekundär beteiligt. Aber wir werden in der EU auch noch primäre Gefährdungen erleben und bestehen müssen. Bis dahin haben die europäischen Nationalstaaten - hoffentlich - soviel dazugelernt, daß wie auch immer motivierte 'Sezessionskriege' innerhalb der EU keiner Seite wirklich weiterhelfen, aber die Gemeinschaft schwächen - dies zur derzeitigen Rolle Blairs.


Eine notwendige Emanzipation von den USA

Die Politik-Beziehung zwischen Deutschland und den USA ist seit dem ersten Weltkrieg durch deutsche Unmündigkeit belastet. Die deutsche Kriegserklärung gegenüber den Vereinigten Staaten im Jahre 1941 hat schließlich mit der totalen Niederwerfung des deutschen Militarismus geendet und damit, daß die deutsche Regierung unter Hitler durch ihre Kriegspolitik bis 1945 Deutschland hat zum wimmernden Krüppel verkommen lassen.

In meiner Jugend markierten die USA für mich eine 'Leitkultur'. Die Zerschlagung des Hitler-Faschismus durch die Alliierten, die Reorganisation einer parlamentarischen Demokratie in Restdeutschland, die Bereitstellung einer Aufbau-Finanzierung, die schrittweise Wiedereinbindung der BRD in die Organisationen und Strukturen einer zivilisierten Staatengemeinschaft, all das hatte viel mit den USA zu tun. Deshalb kann und werde ich diesen Beitrag der USA zur zweiten deutschen Staatswerdung im 20. Jahrhundert nicht vergessen.

Etwas anderes ist es, wenn diese mächtige Nation sich zur ungezügelten Herrschaft über immer mehr Nachbarstaaten und Länder der Welt erhebt, wenn dieser Nation wegen ihrer machtpolitischen Dominanz mehr Rechte eingeräumt werden müssen, als ihr in einer Völkergemeinschaft von Gleichen zusteht. Dann tritt ein Krisenfall ein. Wenn Staaten von der Supermacht immer abhängiger werden, wenn diese Supermacht mit erpresserischen Methoden auftritt, um ihre Interessen durchzusetzen, dann gibt es keine immerwährende Dankesschuld mehr, dann gibt es auch keine immerwährenden Bündnisverpflichtungen, weil sie die Supermacht verspielt hat. Dann erwarte ich von meiner Bundes-Regierung, daß sie lernt NEIN zu sagen, auch gegenüber einer befreundeten Nation, auch gegenüber der Regierung der USA. Es ist wieder einmal ein SPD-Kanzler und nun erstmals ein Grüner Außenminister, die eine Wende in der deutschen Außenpolitik, hier speziell eine Beziehungswende zu den USA eingeleitet haben.

Nach Jahrzehnten einer zuerst freudig gewünschten dann eher mit Fassung geduldeten Abhängigkeit von den USA hat die deutsche Bundesregierung im Jahr 2002 die Notwendigkeit erkannt, laut und unmißverständlich NEIN zu sagen. Sie hat die Gelegenheit genutzt, dies gegenüber einer arroganten US-Administration in einer Konfliktlage zu tun, die weltweit unterschiedlich bewertet worden war. Wenn die Demokratie der USA ihrem Oberbefehlshaber, dem derzeitigen Präsidenten so gefährliche Experimente gestattet, wie einen Angriffskrieg zu führen, mit seinen Atomwaffen zu drohen und damit einen Erstschlag anzukündigen, dann ist eine geeignete Zeit gegeben, gegenüber dieser Vormacht das nationale Verhalten neu zu justieren.

Frankreich hat sich seit Jahrzehnten einer zu innigen Vereinnahmung durch die USA widersetzt. Die französischen Regierungen haben Erfahrung im distanzierten Umgang mit den USA, die französische Bevölkerung kann es gelassener ertragen, wenn von jenseits des Atlantik harsche Töne zurückkommen. Wir Deutschen waren bisher einer solchen Situation nicht ausgesetzt, wir haben keine nationale Erfahrung, mit den USA auf gleicher Augenhöhe streitig zu verhandeln, welche die französische Außenpolitik sehr wohl hat.


Deutschland lernt immer noch, außenpolitisch aufrecht zu gehen

Deshalb unterstütze ich die jetzige Bundesregierung, Kanzler Schröder und Außenminister Fischer. Daß sie einen weiteren Schritt zur Emanzipation deutscher Außenpolitik gewagt haben, finde ich notwendig und gut; daß sie in Details zwar - noch - nicht so souverän mit dem USA-Unmut umgegangen sind, wie dies Frankreichs Politik aus Erfahrung und Überzeugung zu tun gewohnt ist, mag man bedauern; das wird sich mit der zunehmenden Routine beheben lassen. Aber ein Anfang ist gemacht.

In den 1990er Jahren war in den europäischen Medien des öfteren die Rolle des schlafenden Riesen Deutschland beklagt worden. Nun ist D zwar nicht als Riese aufgestanden, aber als verantwortungsbewußte kleinere Mittelmacht vernehmlich geworden: Dies erwarte ich von der deutschen Außenpolitik, daß sie sich auf ihrem neuen außenpolitischen Kurs Souveränität verschafft und Gelassenheit zeigt den 'Freunden' Bush&Blair gegenüber.

Ich sehe die derzeitige Entwicklung vergleichbar der Neuorientierung der deutschen Ost-Politik durch Willi Brandt: Auch damals war das ein gewaltiges Wagnis, wurde gegen eine wütende Opposition beharrlich durchgesetzt, aber mit einer Zustimmungsmehrheit im Volk wurde dieser Weg konsequent gegangen. Ich weiß, jeder Vergleich ist mängelbehaftet. Aber ich erlebe derzeit solch eine markante Wende in der deutschen Außenpolitik wieder; immer vorausgesetzt, der Kanzler und der Außenminister halten den Kurs.

Adenauer hat die prioritäre Westbindung festgelegt; die deutsch-französische Aussöhnung war und ist ein Jahrhundertereignis; Brandt hat die Fenster und Türen zur DDR und zu Osteuropa geöffnet; Kohl hat die Beziehung zur einstigen UDSSR auf eine neue Grundlage gestellt; Schröder und Fischer sollen die von ihnen eingeschlagene Entwicklung weiter treiben und eine qualitativ neuartige Beziehung zu den USA aufbauen. Daß ihnen dabei das Volk mehrheitlich assistiert, ist eine erfreuliche Ausgangslage, aber auch ein unbedingter Auftrag zur Festigkeit.

Gerade einer deutschen Außenpolitik steht es gut an, nach langen Jahren einer kuscheligen Harmoniepolitik zu zeigen, daß sie konfliktfähig geworden ist, gerade und vor allem gegenüber Partnern. Eine konfliktfähige Politik steht im klaren Gegensatz zur Politik des 'Unter-den-Teppich-Kehrens'. Konflikte sind Bestandteile menschlicher Gesellschaften und prägen Staatenbeziehungen. Inter-nationale Konflikte anzunehmen und auf zivilisierte Weise zu bestehen, setzt Fähigkeiten voraus, die wir Deutsche vielleicht noch intensiver lernen und üben sollten.

Gute Grüße
Helmut M. Selzer
20.02.2003

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