Helmut M. Selzer
 
 
 

Seit vielen Jahren ist es (m)ein Brauch, einen Text zum Jahreswechsel an meine Freunde und Bekannten zu versenden.

Wie könnte es anders sein, befaßte ich mich zum Jahreswechsel 02/03 mit den US-amerikanischen Kriegsvorbereitungen.

Ich stelle diesen Text nachträglich ins Netz, weil ich damit etwas von der eigenen Sozialisationsgeschichte, also der Biographie eines im Jahre der Berliner NS-Olympiade (1936) geborenen Deutschen offenlegen kann,

meine Anmerkungen zum Jahreswechsel 2002 auf 2003


1
Weihnachten 1942, ich war sechs Jahre alt, ein strahlender Mond am sternefunkelnden wolkenlosen Himmel und auf der Erde lag viel Schnee, eine Traumweihnacht, so ist sie noch heute in meiner Erinnerung. Kriegsweihnacht, hieß das in der NS-Rhetorik. Die Stimmung in meiner Umgebung war schon von Zweifeln gedrückt, aber noch keineswegs schlecht. Obgleich 280.000 deutsche Eroberungskrieger bei Stalingrad eingeschlossen waren, setzten viele Deutsche alle ihre Hoffnungen und ihre imperialen Träume auf Hitler und seine Kriegskunst; doch davon wußte ich damals nicht viel. Einiges hatte ich von meiner Großmutter Anna jedoch mitbekommen: es war ein sehr gefährlicher Verbrecher, der über Deutschland herrschte und Europa mit Krieg, Verwüstung und Tod überzog.

Weihnachten 1946 war ich mit anderen deutschen Kindern in der amerikanischen Schule in Harlaching zu einer Christmas party eingeladen, es gab zur Show Kaugummi, Cakes und Erdnüsse.
Etwa 1953 besuchte ich dieselbe amerikanische Schule als Gast wieder und war begeistert von der freien und entspannten Art, wie junge US-Bürger gebildet und erzogen wurden.

Während meiner Schulzeit und während meines ersten Studiums war die Auseinandersetzung mit dem Vater dominant und erinnerungsprägend. Aber es war nicht nur der einzelne Vater, es war seine Generation, die in fremde Länder eingefallen war und dort gewütet, zerstört und getötet hatte. Und, es war die Sprachlosigkeit auf beiden Seiten der Generationengrenze, die belastete.

Doch da gab es immer die gute Alternative, Verwirklichung einer modernen Demokratie in den USA, die in Deutschland zu übernehmen und zu festigen mir wichtig war. Schlimme Nachrichten aus rassistischen Südstaaten der USA wurden überlesen, geflissentlich in ihrer Bedeutung nicht wahrgenommen.

Seit 1945 bis zum US-amerikanischen Vietnamkrieg war ich überzeugt, daß die US-Amerikaner Freiheit, Demokratie und Wohlstand in die Welt bringen werden. Dann erst begann bei mir ein mühsamer Klärungsprozeß und ein schmerzliches Abschiednehmen von den naiven Träumen einer 'pax americana'.

Die USA spielten in meinem politischen Reifungsprozeß eine große Rolle. Ich hatte zwei Jahrzehnte lang ein ausgeprägt positives Vorurteil gegenüber den USA. Jedoch, seit ich mich mit der Rolle der USA in Mittel- und Südamerika befaßte, wurden meine Vorurteile gegenüber den USA ambivalent. Und seitdem ich die Rolle des gnadenlosen Kapitalismus als des Motors der USA-Gesellschaft und ihrer Innen- und Außenpolitik zu begreifen begann, ist meine USA-kritische Haltung ausgeprägt worden. Seither habe ich mir das Recht zugestanden, nicht nur über die Deutschen im Hitler-Faschismus zu urteilen und die Adenauer-Restauration kritisch zu bewerten, sondern nun auch die Befreier von 1945 im Hinblick auf ihre Imperialpolitik zu hinterfragen.

2
Antiamerikanismus, als Vorwurf gemeint, ist ein in sich höchst unklarer Begriff. Die Teile Amerikas bestehen aus etwa 40 Staaten. Ich nehme nicht an, daß es in Deutschland viele Menschen gibt, die gegenüber 40 amerikanischen Staaten Abneigung zeigen.
Wer also soll mit 'Antiamerikanismus' gemeint sein? Offensichtlich die USA, das flächenmäßig zweit größte Land auf den amerikanischen Kontinenten. Der Vorwurf sollte dann aber präziser gefaßt werden, etwa 'Vorbehalte gegenüber der US-amerikanischen Politik und Gesellschaftsordnung haben'.
Die habe ich allemal. Die habe ich, seit US-Amerikaner der ganzen Welt, vorführen,
* wie marode ihr Wahlsystem ist, und wie sehr die USA-Demokratie durch Wahlmanipulation gefährdet ist,
* wie herrschaftsarrogant der derzeitige Präsident und seine Vorläuferpräsidenten mit den Vereinten Nationen und ihren Organen umspringen und umsprangen,
* wie parteiisch die US-Außenpolitik scheidet zwischen nützlichen Staaten, denen schier alles erlaubt scheint und hinderlichen Mächten, die, wo immer es irgend möglich ist, von den USA attackiert werden,
* wie heftig die USA die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zur Ahndung von Kriegsverbrechen attackierten, ihn inhaltlich boykottieren, um ihre Machtausübung weltweit unbehindert zu sichern,
* wie wenig USA-Politik und USA-Kapitalismus bereit sind, die Natur weltweit, besonders in der sog. dritten Welt zu bewahren, wie wenig sie bereit sind, fremde Kultur zu achten, indigene Völker zu schützen, wenn eigene ökonomische Interessen möglicherweise betroffen sind,
* wie es dem derzeitigen USA-Präsidenten offensichtlich gelingt gegen große Vorbehalte der Mehrheit der US-Bürger einen Krieg vom Zaun zu brechen,
* und die Liste der Vorbehalte ließe sich fortsetzen.

Die Haltung der USA-Regierung gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof ist als Teil der Strategie einer sich verfestigenden USA-Imperialpolitik zu bedauern. Wenn sich die USA den mühsam vereinbarten neuen Rechtsnormen der zivilisierten Staaten der Welt verweigern, wenn sie US-Bürger beim Vorwurf begangener Kriegsverbrechen kategorisch dem Zugriff internationaler Rechtsstaatlichkeit entziehen, dann können wir uns eine Vorstellung machen, daß es künftig noch oft und noch viele US-Soldaten in ausländischen Territorien weltweit geben wird, die völkerrechtswidrig agieren sollen.

3
Der nach den Maßstäben der USA-Demokratie gewählte Präsident Bush jr. ist dabei sich zum Welt-Imperator zu mausern. Dabei ist es vorerst weniger wichtig genau zu wissen, ob dieser gefährliche Mann aus eigener Intelligenz und persönlichem staatsmännischem Kalkül diese Kriegspolitik betreibt, oder ob er sich als Marionette des ökonomisch-militärischen Komplexes gebrauchen läßt (das wird sich erst in Zukunft analysieren lassen).

Die Motive des Präsidenten Bush jr. erscheinen einfach und durchschaubar angelegt.
1. Akt: Am 11.9.2001 wurde die US-amerikanische Staatsmacht vor aller Welt abgrundtief gedemütigt.
2. Akt: Mr. Bush jr. sinnt auf Rache; er beschwört einen 'Kreuzzug gegen das Böse'.
3. Akt: Die vermuteten Organisatoren der Anschläge in New York und in Washington DC sind für die Militärs und die Geheimdienste der USA nicht zu fassen.
4. Akt: Ersatzschuldige werden gesucht. Unter den öffentlich gehandelten 'Mächten des Bösen' wird der attraktivste ausgesucht. Der Irak ist ein dreifach interessantes Ziel für einen Angriffskrieg:
- Präsident Bush sen. hat hier bereits Krieg geführt, aber 'zu früh' abgebrochen; sein Sohn will es besser machen.
- Israel fühlt sich vom Irak bedroht; die für die US-Innenpolitik wichtige Pressure-group der US-amerikanischen Juden drängt auf Entmachtung von Saddam Hussein.
- ... und es winkt Öl, viel Öl, also viel viel viel Geld für die US-amerikanischen Ölkonzerne - damit lassen sich die nächsten Wahlen kaufen und gewinnen.
5. Fazit: Ein Angriffskrieg gegen den Irak würde der angeschlagenen Nationalpsyche wieder aufhelfen, festigte den USA-Imperialismus und brächte viele Erdöl-$$ in US-amerikanische Kassen.
6. Akt (ist sehr wahrscheinlich): Präsident Bush jr. wird einen Angriffskrieg gegen Irak führen.

4
Die großen europaweiten Demonstrationen gegen den Bush-Krieg (am 8. Februar 2003) werden auch die Rolle des Herrn Schröder zu hinterfragen haben. Von ihm erwarte ich, daß er sein 'Wir werden uns an einer militärischen Aktion nicht beteiligen' auch 1:1 umsetzt, also keine deutschen AWACS fliegen läßt, keine Spürpanzer in Kuwait beläßt, keine Überflugsrechte für USA-Militärmaschinen, auch keine Überflugsrechte für britische Militärflugzeuge im deutschen Luftraum zuläßt, keine deutschen Soldaten zur Bewachung US-amerikanischer Militärstützpunkte in Deutschland abkommandieren läßt, gleich ob die US-Amerikaner und die Briten mit oder ohne Mandat der UNO ihrer Kriegslust frönen.

5
Über die schädliche Rolle das Diktators Hussein ist viel geschrieben worden. Diktatoren sind verabscheuungswürdige Kreaturen. Aber die Liste der Diktatoren, die von den USA unterstützt, gefördert und geschützt wurden, solange sie nur bereit waren den US-Kapitalismus ungestört in ihrem Land agieren zu lassen, ist sehr lang.

Diktator Hussein ist wohl deshalb heute der Vertreter des 'Bösen', weil er dem globalisierten US-Kapitalismus hinderlich ist.

6
Noch mehr als in den Phasen einer in Blöcke geteilten und machtpolitisch annähernd ausballancierten Welt (wie noch vor zwei Jahrzehnten), ist es heute die Aufgabe der mündigen Bürger, auf Politik Einfluß zu nehmen. Wir Bürger brauchen dazu Einfallsreichtum und kreative Fantasie. Demokratie ist nicht das Privileg der Gewählten; Demokratie ist Daueraufgabe für mündige Bürger.

Als mündiger Bürger wird man allerdings nicht geboren; manche sind mit zwanzig dabei, einer zu werden, manche haben es mit 50 noch nicht geschafft.

Die bisher unmündig gebliebenen Bürger, diejenigen, die Politik mit sich geschehen lassen, die keinen Einfluß nehmen, werden ihr bisher nicht eingebrachtes Potential vielleicht noch erkennen. Ich bin davon überzeugt, die meisten Menschen sind lernfähig, wenn die Bedingungen sie zum Lernen zwingen. Heute noch politisch inaktive Bürger werden vielleicht in fünf, in zehn Jahren, vielleicht schon morgen sich auch einmischen: die individuellen Lernprozesse hin zur demokratischen Mündigkeit sind sehr unterschiedlich in Dauer, Form und im Ergebnis.

7
Was ist geboten zu tun? Was kann ich tun?
In einer europäisch geprägten Demokratie zu leben ist anstrengend. Nur die vielen kleinen Schritte sind es, die eine Demokratie weiterbringen, und zwar die kleinen Schritte der vielen mündigen Bürger.

Eben dieser mündige Bürger hat eine Reihe von Möglichkeiten, sich zu artikulieren, zu agieren und zu handeln, so

- beim Diskurs am heimischen Tisch,

- das gesprochene Wort im engeren Kreis der Bekannten,

- Briefe an die Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises, an Bundesminister und an den Bundeskanzler,

- Briefe an den Bundespräsidenten, der über sein gesprochenes und sein geschriebenes Wort nachhaltig wirken kann,

- Briefe an den Generalsekretär der Vereinten Nationen senden,

- Leserbriefe an die regionale Zeitung,

- bei den ab Februar 2003 geplanten europaweiten Demonstrationen dabeisein,

- über andere Möglichkeiten der Einflußnahme wird im schlimmen Falle eines US-UK-Angriffskrieges zu beraten sein.

8
Ganz bestimmt können wir uns am 8. Februar in München, in Nürnberg, vielleicht in Augsburg oder in Ingolstadt 'treffen', wenn viele Millionen Menschen in Europa und in den USA Bush und Blair zeigen, was sie im Irak wünschen: Keinen Krieg!

Sollten die Bush-Krieger früher zuschlagen, gilt: Große Demonstrationen in Berlin und in vielen deutschen Städten am 1. Samstag nach Tag X um 13:00 Uhr.


Mit diesem - teilweise polemisch gehaltenen - Text
wünsche ich meinen Freunden und den politisch aktiven Bürgern in meinem Bekanntenkreis
ein Irak-Krieg-freies Jahr 2003

Helmut M. Selzer
28.12.2002